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Liebe Schwestern und Brüder,
ich stehe in Conques, einer Wallfahrtskirche in Frankreich und Station auf dem St. Jakobsweg und sehe über einer Kirchentür ein in höchster Kunst gemeißeltes Bild, das genau dieses Weltgericht zeigt:
Die guten und braven werden von Engeln in den Himmel geholt.
Die bösen und lasterhaften werden in den Höllenschlund geworfen und leiden fürchterliche Qualen.
Als Hörer dieser Gerichtsszene habe ich die Wahl, wie ich das Gehörte für mich verstehe:
Ich kann hören: Wenn du nicht genügend Gutes tust, dann wirst du ein schlimmes Ende nehmen.
Oder: Streng dich an, Gutes zu tun, dann gehörst du zu den Auserwählten.
Oder aber, ich kann das heraushören, was das eigentlich neue ist und eine wirklich befreiende Botschaft:
Der höchste Richter über Gut und Böse sagt: „Was ihr dem geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ –
Gott identifiziert sich mit den Kranken, Gefangenen, Hungernden.
Gott identifiziert sich mit den Arbeitssklaven in den Kleidungsfabriken Asiens und mit den Teppichknüpferkindern in Indien;
mit den Menschen, die keinen Platz mehr haben in unserer Gesellschaft finden, weil sie nichts verdienen, weil sie süchtig, straffällig geworden sind, …
In diesen Menschen, die darauf warten, dass ihre Not gelindert wird,
dass sich ihnen jemand zuwendet und sie als Menschen achtet – in diesen Menschen begegnen wir Gott.
Und deshalb entscheidet sich an unserem Verhalten zu diesen Menschen am Rand, ob wir gut sind nach dem Vorbild Gottes, der sein Leben einem jeden mitteilt: der die Sonne aufgehen lässt über Guten und Bösen.
Schwestern und Brüder, das ist einer der Abschnitte der Heiligen Schrift, der mit klar macht, welcher Schatz dieses Buch ist und wie sehr die Heilige Schrift uns hilft, in unserer Menschlichkeit voranzuschreiten.
Dieses Buch ist Heilige Schrift, weil es uns hilft, Gott zu erkennen und ihn zu suchen und zu finden.
Auch das sogenannte Alte Testament ist ein Zeugnis der Suche der Menschen nach dem Urgrund des Seins, den wir Gott nennen. Auf jeder Seite wird spürbar: Gott selbst hat die Sehnsucht in uns gelegt, die uns antreibt, die Sehnsucht nach Leben und nach dem der uns das Leben gibt und geben kann.
Denen, die ihn suchen, gibt er sich zu erkennen: ja, unbeholfen sind wir Menschen bei dieser Suche: viele Geschichten des Volkes Israels geben davon ein beredtes Zeugnis. Doch gerade in den manchmal erschreckenden Geschichten wird deutlich, dass die Sehnsucht nach Gott und dem Leben unaustilgbar in uns lebt und uns immer wieder mit der Suche beginnen lässt.
Die ganze Bibel, die wir niemals abschließend und endgültig recht deuten werden, ist deshalb Heilige Schrift. Zeugnis davon, dass Gott sich suchen und finden lässt.
Die Heilige Schrift ist ein Schatz, ein unerschöpflicher Schatz für den Menschen auf seiner Suche nach Gott.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir die Heilige Schrift noch mehr lieben und uns noch mehr in sie vertiefen: denn in ihr sind die Spuren gelegt für den Weg hin zu Gott, hin zum Leben, hin zum gut sein und werden.
Nichts anderes ist der Sinn des Lebens, das uns von Gott geschenkt ist:
Dass wir gut sind und werden. Jeden Tag neu.
Die Heilige Schrift ist der Wegweiser, die Landkarte und führt uns ans Ziel.
Die Rede vom Gericht ist in Wirklichkeit keine Rede vom Gericht, sondern vom Weg des Lebens:
Wer sich dem Geringsten zuwendet und seine Not wendet, der wendet sich Gott zu,
der tut Gottes Werk.
Der findet zum Leben.
Ich liebe diese Botschaft der Heiligen Schrift,
diese Gottesoffenbarung in den Worten Jesu.